Autismus kommt selten allein. Dies bedeutet: autistische Menschen weisen häufig (zahlreiche) zusätzliche Erkrankungen und Störungsbilder auf, die als Komorbiditäten
bezeichnet werden. Zu diesen Komorbiditäten zählen beispielsweise ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen), Tic-Störungen/ Tourette Syndrom, Depressionen, generalisierte
Angststörungen, Intelligenzminderungen, Schlafprobleme, Epilepsie, motorische Störungen, Legasthenie, Dyskalkulie und das Klinefelter-Syndrom (DGKJP & DGPPN, 2016; ICD11).
Falsche Annahmen über Autismus aufgrund von gängigen Komorbiditäten (?)
Der Fakt, dass autistische Menschen spezifische Komorbiditäten sehr häufig aufweisen, kann Forschungsergebnisse über Autismus systematisch verzerren und
dazu beitragen, dass sich Falschannahmen über Autismus entwickeln. Dieses prinzipielle Problem soll an dem folgenden imaginären Beispiel verdeutlicht werden.
In diesem Beispiel wird angenommen, dass ein Forschungsteam A untersuchen möchte, ob Menschen mit Autismus wegen ihrer Autismus-Spektrum-Störung eine
verringerte Aufmerksamkeitsleistung aufweisen. Daher wird im Rahmen einer hinreichend großen und repräsentativen Stichprobe bei 1) autistischen und 2) nicht-autischen Menschen die
Aufmerksamkeitsleistung gemessen. Dazu wird ein bewährtes Testverfahren verwendet. Als Ergebnis dieser Untersuchung stellt sich heraus, dass auf einer spezifischen Skala, bei der eine hohe
Punktzahl eine hohe Aufmerksamkeitsleistung bedeuten, dass autistische Personen im Durchschnitt 90 Punkte und nicht-autistische Menschen im Durchschnitt 100 Punkte erreichen. Eine
statistische Analyse bestätigt: autistische und nicht-autistische Menschen unterscheiden sich bezüglich ihrer Aufmerksamkeitsleistung signifikant. Nun schlussfolgert Forschungsteam A, dass
autistische Menschen wegen ihrer Autismus-Spektrum-Störung eine verminderte Aufmerksamkeitsleistung aufweisen. Sie veröffentlichen ihre Forschungsergebnisse in einer entsprechenden
Fachzeitschrift.
Ein anderes Forschungsteam (Forschungsteam B) liest die Forschungsergebnisse von Forschungsteam A und überlegt, ob die hohe Komorbidität von ADHS und
Autismus die Ergebnisse der Studie von Forschungsteam A verzerrt haben könnte: So nimmt das Forschungsteam B nämlich an, dass 20% aller autistischen Menschen eine ausgeprägte ADHS
aufweisen. Mit Blick auf diese Annahme denkt das Forschungsteam darüber nach, ob in der obigen Studie eventuell ein methodischer Fehler gemacht wurde und daher das Ergebnis falsch sein
könnte: Denn in der Studie von Forschungsteam A wurde nicht zwischen 1) autistischen Menschen mit Autismus, aber ohne ADHS und 2) autistischen Personen mit Autismus und mit
ADHS unterschieden, sondern alle autistischen Menschen wurden in einer einzigen Gruppe zusammengefasst. Deshalb führt dieses Forschungsteam B die Studie mit einer leichten Veränderung
in der Methodik erneut durch. In dieser Studie von Forschungsteam B werden 3 Gruppen unterschieden: 1) Menschen mit Autismus, aber ohne ADHS, 2) Menschen mit Autismus und ADHS sowie 3) eine
Kontrollgruppe von Menschen, die nicht autistisch sind. Nun werden in dieser Studie von Forschungsteam B mit dem gleichen Testverfahren, mit dem auch das Forschungsteam A gearbeitet hatte, für
die Aufmerksamkeitsleistung die folgenden Durchschnittswerte pro Gruppe gemessen:
Gruppe 1 (Menschen mit Autismus, aber ohne ADHS): 101 Punkte
Gruppe 2 (Menschen mit Autismus und ADHS): 46 Punkte
Gruppe 3 (Menschen ohne Autismus): 100 Punkte
Die statistische Auswertung belegt, dass Menschen aus Gruppe 1 (Menschen mit Autismus, aber ohne ADHS) deskriptiv zwar minimal höhere Werte im Durchschnitt
aufweisen als die Gruppe 3 (Menschen ohne Autismus), aber hier kein bedeutender Unterschied festzustellen ist. Auf jeden Fall ist Gruppe 1 der Gruppe 3 in ihrer Aufmerksamkeitsleistung nicht
unterlegen (im Gegensatz zum Forschungsbefund von Forschungsteam A): Menschen mit Autismus würden sich also in ihrer Aufmerksamkeitsleistung nicht erheblich von Menschen ohne Autismus
unterscheiden, insofern ebendiese autistischen Menschen kein ADHS haben. Menschen mit Autismus und ADHS (Gruppe 2) würden jedoch erhebliche Defizite in der Aufmerksamkeitsleistung aufweisen.
Somit bestätigt sich, dass das Forschungsteam A einen methodischen Fehler begangen hatte: Weil nicht zwischen Personen der Gruppe 1 bzw. 2 unterschieden wurde, wurde fälschlicherweise
festgestellt, dass autistische Personen (generell) eine geringere Aufmerksamkeitsleistung aufweisen würden. Hier hatte das Vorliegen einer überproportional häufigen Komorbidität also die
Ergebnisse verzerrt. Die Ergebnisse von Forschungsteam B legen vielmehr die Schlussfolgerung nahe, dass autistische Menschen (im Durchschnitt) in ihrer Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigt sind,
wenn diese autistischen Menschen kein ADHS haben.
Anhand dieses imaginären Beispiels mit ausgedachten Zahlen sollte ein wichtiger Aspekt prinzipiell deutlich geworden sein: Wenn in der Forschung herausgefunden
werden soll, wie kognitive Profile von Menschen aufgrund von Autismus (und nicht eventuell aufgrund von Komorbiditäten, die häufig mit Autismus einhergehen) geartet sind, dann müssen die
Komorbiditäten bei der Datenanalyse berücksichtigt werden. Wenn Komorbiditäten nicht in dieser Weise berücksichtigt werden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob eine spezifische
Auffälligkeit in den anfallenden Daten tatsächlich auf Autismus oder doch eher auf eine gängige Komorbidität, welche den Mittelwert der Gesamtstichprobe autistischer Menschen systematisch
verzerrt, zurückzuführen ist.
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