Selbstdiagnostik als Ergänzung zur Fremddiagnostik
Insofern der Prozess Diagnostik als ein zentrales Element der Heilkunde angesehen wird, stößt die Selbstdiagnostik juristisch an einige Grenzen:
"Wer die Heilkunde ausübt, solange durch vollziehbare Verfügung das Ruhen der Approbation angeordnet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bestraft" (Bundesärzteordnung, §13 Straf- und Bußgeldvorschriften).
Entsprechend obliegt es Ärzt:innen und Therapeut:innen eine offizielle Diagnose festzustellen und dann Maßnahmen zum Umgang mit dieser Diagnose einzuleiten sowie abzuwägen. Außerdem ist es nicht vorstellbar, dass eine Krankenkasse (z.B. zur Beantragung eines Pflegegrades) oder ein Amt (z.B. zur Beantragung eines Schwerbehindertenausweises) eine positive Selbstdiagnostik auf Autismus anerkennt und einem daher einen Nachteilsausgleich gewährt.
Aber auch wenn es Ärtzt:innen und Therapeut:innen im Kontext der Heilkunde obliegt, eine offizielle Diagnose zu stellen, so zeigt die Lebensrealität: Viele Menschen, die vermuten, dass sie autistisch sein könnten, müssen oft mehrere Jahre warten, bis sie die Möglichkeit zum Durchlaufen einer offiziellen Diagnostik erhalten. So gaben in einer Studie von Schuwerk et al. (2022) 33% der Teilnehmer:innen an, 1-3 Jahre auf eine Diagnostik warten zu müssen; 10% der Teilnehmer:innen warteten 3-5 Jahre und 18% sogar mehr als 5 Jahre. Häufig müssen sogar mehrere Fachpersonen aufgesucht werden, bis eine Diagnose gestellt wird (Höfer, 2019).
Darüber hinaus ist die Qualität einer solchen offiziellen Diagnostik auch nicht immer gut: So weiß der Autor dieses Textes von mehreren Personen, die mehrere Jahre auf einen offiziellen Diagnostiktermin gewartet haben, denen dann beim offiziellen Diagnostiktermin nach einem Gespräch von wenigen Minuten aber gesagt wurde, dass sie nicht autistisch sein könnten, weil sie dem Diagnostiker in die Augen schauen konnten. Eine solche Aussage demonstriert die Unwissenheit vieler (Fach-)Personen über Autismus, denn das "bloße in-die-Augen-Schauen" ist nach den offiziellen Klassifikationssystemen (ICD10, ICD11 oder DSM5) kein definitives Ausschlusskriterien für eine positive Autismusdiagnose. In der Studie von Schuwerk et al. (2022) wurde deutlich, dass bei mindestens 5% der Personen im Rahmen der Autismusdiagnostik keine wissenschaftlich fundierten Tests zum Einsatz gekommen sein sollen.
Prinzipiell gilt, dass bei Verdacht auf eine Autismus-Spektrum-Störung in einer spezialisierten Stelle eine umfassende Diagnostik durchgeführt werden sollte und es auch bundesweit entsprechend viele Stellen geben sollte (DGKJP & DGPPN, 2016). Eine ausreichende Anzahl an Anlaufstellen scheint mit Blick auf die bereits dargestellten oft langen Wartezeit auf einen offiziellen Diagnostiktermin jedoch nicht gegeben zu sein. In Anbetracht dieser Tatsachenlage und der nicht immer hinreichenden Qualität der Diagnostik, wenn es um das Thema Autismus geht, ist vermutlich nachzuvollziehen, dass sich Menschen, die möglicherweise autistisch sind, aber bisher keine offizielle Diagnose haben, selbst helfen möchten, um etwas mehr Klarheit über sich selbst zu erlangen: Im Rahmen einer Selbstdiagnostik.
Selbstverständlich werden die meisten Personen, die eine solche Diagnostik bei sich selbst durchführen möchten, keine für Diagnostik und Autismus ausgebildeteten Fachpersonen sein, sodass (fachliche) Mängel nicht auszuschließen und in einem gewissen Ausmaß sogar zu erwarten sind. Allerdings kann eine umfangreiche Selbstdiagnostik einem selbst mehr Klarheit darüber bringen, "was mit einem eigentlich los ist". Dies hilft, sich selbst sowie die eigenen Bedürfnisse besser zu verstehen. Insgesamt ist die Selbstdiagnose jedoch schon allein aufgrund verzerrender Effekte, die z. B. aufgrund mangelnder Objektivität (fast) immer zu erwarten sind, und die niemals ausgeschlossen werden können (siehe Kapitel zum Thema Objektivität, Reliabilität und Validität), als kein finales Endergebnis zu betrachten.
In diesem Kontext ist jedoch auch zu beachten, dass selbst eine Fremddiagnostik durch einen Facharzt oder eine Fachärztin (offensichtliche) fachliche Mängel aufweisen kann - auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass eine ausgebildete Fachperson erhebliche Fehler macht, statistisch geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, dass eine nicht ausgebildete Person einen solchen Fehler begehen wird. Außerdem ist das Folgende zu bedenken: Wenn in einer Fremddiagnostik nur ein einziges Testverfahren durchgeführt wird und anhand des Ergebnisses Autismus direkt ausgeschlossen wird, so ist zu hinterfragen, ob dieses eine Testergebnis im Rahmen einer Fremddiagnostik tatsächlich aussagekräftiger ist als z. B. 6 wissenschaftlich fundierte Tests, die im Rahmen einer gründlichen und gewissenhaften Selbstdiagnostik durchgeführt wurden. Denn die Anwendung zahlreicher unterschiedlicher Testverfahren kann unter Umständen kleinere fachliche Mängel kompensieren, sodass das Gesamtergebnis dieser unterschiedlichen Testungen im Einzelfall aussagekräftiger sein könnte als das Ergebnis eines einzigen Testverfahrens, das von einer Fachperson durchgeführt wurde.
Selbst das Ergebnis einer sehr gewissenhaften Selbstdiagnostik, welche als eine wissenschaftliche Einzelfallstudie über sich selbst interpretiert werden könnte, kann und darf maximal als eine fundierte sowie begründete Vermutung interpretiert werden und bedarf weiterer Untersuchungen. So ist es nämlich auch in der Wissenschaft vollkommen üblich, dass selbst hochwertige Einzelstudien von anderen unabhängigen Personen erneut durchgeführt werden, um zu überprüfen, ob auch im Falle einer Wiederholung das gleiche Ergebnis festgestellt wird (= Reproduktionsstudien). Denn eine korrekte wissenschaftliche Erkenntnis und somit das Resultat einer Studie sollte reproduzierbar sein - unabhängig von der Person, welche die Studie durchführt. Somit stellt jede wissenschaftliche Erkenntnis nach der Durchführung einer Studie zunächst nur einen Zwischenstand dar, wobei dieser Zwischenstand aber das beste ist, was der Wissenschaft zum aktuellen Zeitpunkt als Erkenntnis zur Verfügung steht.
Exakt so sollte das Ergebnis einer (fundierten und gewissenhaften) Selbstdiagnostik betrachtet werden: Das Ergebnis einer Selbstdiagnostik stellt nach Abschluss ebendieser Selbstdiagnostik einen Zwischenstand dar, wobei dieser Zwischenstand aber zum aktuellen Zeitpunkt des Selbstverstehens das beste ist, was einem in diesem Moment zur Verfügung steht. Somit ist das Ergebnis einer Selbstdiagnostik als eine fundierte Vermutung zu interpretieren. Zur weiteren Abklärung sollte aber in jedem Fall eine offizielle Diagnostik durchgeführt werden, um weitere Informationen aus einer anderen Perspektive zu erhalten. Diese weiteren Ergebnisse bzw. Informationen, die als Resultat einer offiziellen Diagnostik anfallen, sind dann in den weiteren Prozess des Selbstverstehens einzubeziehen: Die eigenen Erkenntnisse sind stets kritisch zu reflektieren und mit den Schlussfolgerungen und Beobachtungen anderer Personen auf Stimmigkeit bzw. Unstimmigkeit zu analysieren. Auf diese Weise stehen einem dann im Laufe der Zeit immer mehr Informationen zur Verfügung, um für sich selbst fundiert einschätzen zu können, ob Autismus (bzw. ein anderes Störungsbild) vorliegt oder nicht vorliegt.
Notwendigkeit von Fremddiagnostik: Ausschluss lebensgefährlicher Störungen
Nicht alles, das wie Autismus aussieht, ist auch Autismus. So gibt es nämlich auch andere Störungen, die autismusähnliche bzw. autismusartige Verhaltensweisen auslösen können und im Rahmen einer Selbstdiagnostik nicht ohne Weiteres ausgeschlossen werden können. Die meisten Menschen werden beispielsweise keinen Zugang zu bildgebenden Verfahren haben, um einen Hirntumor als Ursache für die Auffälligkeiten ausschließen zu können. Ein solcher Ausschluss eines Hirntumors ist in aller Regel nur im Rahmen einer gründlichen Fremddiagnostik möglich. Daher sollte auf eine Fremddiagnostik in keinem Fall verzichtet werden.
Dennoch kann die Selbstdiagnostik einen wichtigen ersten Schritt darstellen und während der oft sehr langen Wartezeit bis zum Diagnostiktermin (Schuwerk et al., 2022) eine erste Selbsthilfe ermöglichen (z.B. durch das Tragen von Sonnenbrillen zur Vorbeugung von Reizüberflutungen aufgrund der wegen der Selbstdiagnostik vermuteten Reizfilterstörung bei Autismus). Auch kann es unter spezifischen Bedingungen (z.B. bei Vorliegen einer psychotischen Störung mit Wahnvorstellungen) sein, dass eine Selbstdiagnostik zu keinen validen Ergebnissen führt (vgl. das Kapitel zu den Testgütekriterien in diesem Werk): So würde eine Person, die beispielsweise aufgrund ihrer Wahnvorstellungen glaubt, Napoleon Bonaparte zu sein, im Rahmen jeder Selbstanalyse stets zu dem Ergebnis kommen, dass sie Napoleon Bonaparte ist. Denn das primäre Störungsbild (in diesem Beispiel die psychotische Störung bzw. Wahnvorstellung) würde die Ursache für die nicht korrekte Selbsteinschätzung sein. Deshalb ist eine externe Fremddiagnostik notwendig, um auch diesen Fall der Fälle ausschließen zu können.
Differenzialdiagnostik
Im Rahmen einer Selbstdiagnostik ist nicht nur fundiertes Wissen über Autismus notwendig, sondern auch umfangreiches Wissen über ähnliche Störungsbilder, von denen Autismus zu unterscheiden ist. Daher reicht es nicht, sich im Rahmen einer Selbstdiagnostik einzig und allein mit dem Thema Autismus zu beschäftigen. Vielmehr muss zu zahlreichen weiteren Störungsbildern intensiv recherchiert werden. Nur durch ein umfangreiches Wissen über andere Störungsbilder können diese anderen Störungsbilder und die Symptome, welche mit anderen Störungsbildern einhergehen können, von Autismus abgegrenzt werden. Auch im Rahmen einer Fremddiagnostik spielt die Differenzialdiagnostik daher eine zentrale Rolle.
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