Christian M.-J. Kißler: Lernvideos und Forschung
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Diagnostikkriterien für Autismus

In der DSM5 werden die Diagnosekriterien für Autismus, die sich mit den Diagnosekriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung in der ICD11 weitgehend decken, beschrieben. Dabei sind die Diagnosekriterien in A-Kriterien (von diesen müssen alle 3 erfüllt sein) und in B-Kriterien (von diesen müssen mindestens 2 von 4 Kriterien erfüllt sein) unterteilt (vgl. DSM5). In der DSM5 und ICD11 wird jeweils entgegen der ICD10 nicht mehr zwischen dem frühkindlichen Autismus, dem Asperger-Syndrom und dem atypischen Autismus unterschieden, sondern zusammenfassend von der Autismus-Spektrum-Störung gesprochen. Die individuelle Symptomausprägung kann sehr unterschiedlich geartet sein und sich auch im Laufe des Lebens verändern (DSM5, ICD11).

 

Aktuell gibt es in jeder Autismus-Diagnostik grundlegende methodische Probleme, die im Kern auf die aktuellen Diagnostikkriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung zurückzuführen sind. So ist zwar bekannt, dass Autismus insbesondere genetisch bedingt ist und autistische Gehirne anders verdrahtet sind als nicht-autistische Gehirne (z.B. Habermann & Kißler, 2022; Keenan et al., 2015), allerdings wird in der Autismus-Diagnostik nicht primär die Gehirnstruktur oder die Genetik untersucht, sondern das individuelle Verhalten wird (von außen) betrachtet. Entsprechend sind die Diagnostikkriterien auch formuliert. Dies bedeutet, dass die innere Erlebenswelt bei der Beschreibung von Autismus tendenziell vernachlässigt wird (Kißler, im Druck) und  aufgrund dieser indirekten Diagnostik über das Verhalten vermutlich nicht alle autistischen Gehirne korrekt von nicht-autistischen Gehirnen differenziert werden können. Allerdings ist wegen des (noch) lückenhaften Forschungsstandes zu Autismus aktuell keine andere Vorgehensweise in der Autismus-Diagnostik möglich: Denn obwohl bekannt ist, dass Autismus insbesondere genetisch bedingt ist und das autistische Gehirn anders verdrahtet ist, stellt Autismus ein sehr heterogenes Störungsbild dar: Es ist nicht ausreichend bekannt, wie genau autistische Gehirne verknüpft sind und welche konkreten Gene für Autismus verantwortlich sind. Die Gesamtheit der genetischen Ursachen für Autismus ist noch nicht bekannt, auch wenn einzelne Kandidaten-Gene (Gene, die als Ursache für Autismus in Frage kommen könnten) in der Forschung identifiziert wurden. Aufgrund dieser Forschungslücken ist letztendlich eine Diagnostik, die das Verhalten von außen analysiert, der bisher valideste (vgl. Testgütekriterien: Objektivität, Reliabilität und Validität) Weg, um Autismus zu diagnostizieren. Allerdings ist eine solche Autismusdiagnostik zwangsweise fehleranfällig und es bleibt offen, inwiefern sich durch weitere Forschungsbefunde die Diagnostikkriterien für Autismus zukünftig ändern werden bzw. ändern müssen.

 

Neben der Erfüllung der Diagnosekriterien, die im Folgenden dargestellt werden, ist von Relevanz, dass die Auffälligkeiten/ Schwierigkeiten prinzipiell seit der frühsten Kindheit vorliegen - auch wenn sie in der Kindheit eventuell schwächer ausgeprägt waren (ICD11). Wenn die Auffälligkeiten erst später entstanden sind und in der frühen Kindheit gar keine Auffälligkeiten bestanden, so spricht dies tendenziell eher für das Vorliegen eines anderen Störungsbildes bzw. gegen das Vorliegen von Autismus.

 

A-Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung nach DSM5

Es müssen Defizite in der sozialen Interaktion und Kommunikation vorhanden sein, die über die gesamte Lebenshistorie persistieren, also nicht nur temporär vorhanden sind und dann wieder vollständig verschwinden. In den folgenden 3 Teilbereichen müssen in der Vergangenheit oder aktuell klinisch relevante Auffälligkeiten vorhanden gewesen sein bzw. vorhanden sein:

 1) Auffälligkeiten in der sozio-emotionalen Gegenseitigkeit:

-> Dieses Kriterium kann sich zum Beispiel in einer von der Norm abweichenden Annäherung (z.B. fehlende Distanz) äußern. Es kann auch ein reduziertes Interesse zum Teilen der eigenen Befindlichkeiten (z.B. der eigenen Gefühle und Gedanken) festzustellen sein. Häufig ist auch zu beobachten, dass auf soziale Annäherungsversuche anderer Menschen nicht so reagiert wird, wie es den sozialen Normen entspricht. Das Nicht-Verstehen oder ständige Hinterfragen sozialer Normen (z.B. den Sinn und Zweck von Geschenken bzw. Gepflogenheiten beim Überreichen oder Empfangen von Geschenken) ist typisch.

2) Defizite in der nonverbalen Kommunikation:

-> Dieses Kriterium kann sich zum Beispiel in der Form äußern, dass Mimik, Gestik und andere Formen der nonverbalen Kommunikation nicht zu dem passen, was eine Person eigentlich ausdrücken möchte (z.B. eine von anderen Personen als grimmig wahrgenommene Mimik, obwohl man eigentlich glücklich ist). Häufig sind Schwierigkeiten im Augenkontakt (zu wenig oder zu intensiv) festzustellen. Auch Schwierigkeiten im Verständnis von non-verbaler Kommunikation anderer Personen kann vorhanden sein.

3) Defizite im Entwickeln, Aufrechterhalten und Verstehen von sozialen Beziehungen

-> Dieses Kriterium bezieht sich nicht nur auf romantische Liebesbeziehungen, sondern auch auf das Entwickeln, Aufrechterhalten und Verstehen von Freundschaften, Arbeitsbeziehungen und weiteren Beziehungen zu anderen Menschen. Auch das Nicht-Verstehen von Hierarchien (z.B. im Arbeitskontext) kann als Merkmal dieses Kriteriums verstanden werden. Zu diesem Kriterium gehört nicht zwingend, dass keine Freundschaften etc. eingegangen werden möchten (obwohl dies im Einzelfall der Fall sein kann). Vielmehr geht es insbesondere darum, dass Schwierigkeiten darin bestehen, Freundschaften etc. einzugehen und zu erhalten: Beziehungen zu anderen Menschen scheitern bei autistischen Menschen oft (sehr) schnell oder es gelingt nicht, diese überhaupt einzugehen, weil das soziale Miteinander nicht so verstanden wird, wie es von nicht-autistischen Menschen verstanden wird. Auch Schwierigkeiten beim Rollenspiel (z.B. bei Kindern) gehören zu diesem Kriterium.

In jedem dieser Teilbereiche müssen erhebliche Schwierigkeiten vorhanden sein, damit eine Autismus-Diagnose nach der DSM5 gestellt werden kann. Sollten nicht alle Kriterien erfüllt werden, so ist ein notwendiges Diagnostikkriterium nicht erfüllt. Dies kann auch nicht durch die Erfüllung der B-Kriterien kompensiert werden. Sollten alle 3 A-Kriterien erfüllt sein, so sind darüber hinaus noch ausreichend B-Kriterien zu erfüllen. Alle obigen Beispiele zur Erläuterung der 3 A-Kriterien sind nur als Beispiele zu verstehen: Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit. Die 3 A-Kriterien können sich auch in anderer Form äußern, müssen aber zum jeweiligen Kriterium passen.

B-Kriterien für eine Autismus-Spektrum-Störung nach DSM5

Nach der DSM5 ist zusätzlich zu den 3 A-Kriterien noch die Erfüllung von mindestens 2 der 4 B-Kriterien notwendig. Bei den B-Kriterien geht es um eingeschränkte bzw. repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten sowie um die Über- und Unterempfindlichkeit auf Reize.

1) Stereotype/ sich wiederholende Bewegungen
-> Dieses Kriterium kann sich z.B. in der auffälligen Verwendung von Objekten (Aufreihen von Gegenständen nach Formen, Farben etc.) darstellen. Aber auch Auffälligkeiten in der Sprache (z.B. Echolalie, die Verwendung einer monoton aufgebauten Sprache und die Verwendung von immer den gleichen Satzkonstruktionsmustern) können Auffälligkeiten darstellen, die diesem Kriterium zuzuordnen sind.
2) Probleme im Umgang mit Veränderungen und Festhalten an Routinen
-> Dieses Kriterium kann sich in einer Unflexibilität manifestieren, sodass auf die Einhaltung spezifischer (nicht-funktionaler) Routinen beharrt wird und klinisch relevante Probleme mit Veränderungen bestehen. "Gewöhnliche" bzw. funktionale Routinen (z.B. das Zähneputzen vor dem Schlafengehen) zählen nicht als Merkmal für dieses Kriterium. Häufig lösen Veränderungen bei autistischen Personen extreme Emotionen/ Reaktionen aus oder es besteht Angst davor, dass es zu Veränderungen kommen könnte. Auch starre Denkmuster oder Begrüßungsrituale sowie eine Routine, die sich darin äußert, immer dasselbe Essen essen zu wollen bzw. zu müssen, sind diesem Kriterium zuzuordnen.
3) Intensive Spezialinteressen
-> Dieses Kriterium gilt als erfüllt, wenn klinisch relevante Spezialinteressen vorliegen, die entweder der Art nach (z.B. exzessives Sammeln von Visitenkarten) oder bezüglich ihres Zeitaufwandes (z.B. tägliches Manga-Zeichnen im Umfang von 10 Stunden) von der statistischen/ sozialen Norm erheblich abweichen. Das (gelegentliche oder regelmäßige) Ausüben von Hobbys reicht zur Erfüllung dieses Kriteriums in aller Regel nicht aus. Es sollte hier ein erheblicher und von der Norm abweichender Zeitaufwand vorliegen, damit das Kriterium gesichert als erfüllt betrachtet werden kann. Spezialinteressen sollten von Zwängen unterschieden werden: Das Ausüben von Spezialinteressen wirkt auf autistische Personen in aller Regel beruhigend und kann als Erholung von der komplexen, sozialen Außenwelt verstanden werden, während Zwänge von der betroffenen Person in der Regel als belastend erlebt werden oder die Lebensqualität beeinträchtigen.
4) Hyper- oder Hyposensitivität auf Reize
-> Es besteht eine ungewöhnliche Reaktion auf spezifische Reize (z.B. Licht, Geräusche, Schmerz, Temperatur). Diese Über- und Unterempfindlichkeit kann sich auf unterschiedlichste Art und Weise manifestieren.

Von diesen B-Kriterien müssen mindestens 2 von 4 erfüllt werden, wobei gleichzeitig auch die 3 A-Kriterien vollständig erfüllt sein müssen. Um die Diagnosekriterien zu operationalisieren bzw. um systematisch zu messen, ob die Diagnosekriterien vermutlich erfüllt sind, wurden Testverfahren entwickelt. Diese Testverfahren werden in einem anderen Kapitel dieses Werkes vorgestellt.

Autismus: Eine lebenslange Störung - per Definition
Bei Autismus handelt es sich um eine tiefgreifende und persistierende Entwicklungsstörung. So heißt es in der ICD11 nämlich:
"Although Autism Spectrum Disorder can present clinically at all ages, including during adulthood, it is a lifelong disorder the manifestations and impact of which are likely to vary according to age, intellectual and language abilities, co-occurring conditions and environmental context" (ICD 11).
Dies bedeutet, dass Autismus zwar in allen Altersstufen klinisch auffällig sein bzw. klinisch auffällig werden kann, dass es sich aber stets um eine lebenslange Störung (= "lifelong disorder") handelt. So wird in der ICD11 explizit festgehalten: Die Stärke der Symptome kann in Abhängigkeit unterschiedlicher Faktoren im Laufe des individuellen Lebens schwanken bzw. variieren. Dennoch ist aber nicht prinzipiell davon auszugehen, dass (z.B. durch intensives Lernen sozialer Regeln) die Symptome mit zunehmendem Alter und zunehmender Lebenserfahrung immer weiter abnehmen müssen.
Es kann durchaus sein, dass eine Person aufgrund von Lern- und Maskierprozessen in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter, wenn sie allgemein gesund und fit ist, eine zeitlang immer weniger autistische Symptome zeigt. Aber dann, wenn z.B. im Alter die Kräfte langsam nachlassen und das Maskieren aufgrund von Energiemangel nicht mehr in vollem Umfang möglich ist oder sogar fast unmöglich wird, nehmen die Symptome möglicherweise wieder zu: Das Wissen über das, was von einem als gesellschaftliche Norm verlangt wird, ist eventuell dann vorhanden, aber die Kraft, dies auch entgegen der eigenen Veranlagung umzusetzen, fehlt. Daher kann bei nicht diagnostizierten autistischen Erwachsenen im Rahmen einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes (z.B. wegen Alter) auf einmal ein großes Bedürfnis nach einer Diagnose bestehen, insofern die Auffälligkeiten immer stärker werden und das Maskieren der eigenen Schwierigkeiten immer weniger möglich ist.

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Version 0.1160


Christian Kißler, M.A., M.A.

forschung@christian-kissler.de

 

Master of Arts in

Erziehungswissenschaft,

Master of Arts in Bildung und Medien: eEducation,

Bachelor of Arts in Erziehungswissenschaft und Biologie


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